Kognitive Grundlagen
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Einleitung
Jede Mensch-Computer-Interaktion (Human Computer Interaction, HCI) ist naturgemäß durch die Eigenschaften beider Interaktionsteilnehmer bestimmt. Daher ist es zum Verständnis der Phänomene solcher Interaktionen wichtig, nicht nur über die Charakteristika der Komponente "Computer" Bescheid zu wissen, sondern auch eine Vorstellung vom Funktionieren der Komponente "Mensch" zu entwickeln.
Auf dem Gebiet der Verarbeitung multimedialer Daten spielen die Gesetze der menschlichen Informationsverarbeitung insofern eine noch bedeutendere Rolle, als sie auf verschiedenste Weise ausgenützt werden können, um bestimmte technische Probleme zu lösen. Ein Beispiel hierfür wäre die Komprimierung multimedialer Daten, die Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmung ausnützt, um das Datenvolumen zu reduzieren, ohne merkliche Qualitätseinbußen in Kauf nehmen zu müssen. Ein anderes Beispiel sind Fragen im Bereich der Codierung von Farbinformation, wo es etwa darum geht, Farbmodelle einzusetzen, die den subjektiven Empfindungen des Benutzers möglichst nahe kommen.
In der modernen Psychologie koexistieren eine Reihe von Paradigmen des Zugangs zum menschlichen Verhalten, wobei allerdings keine allumfassende, alles erklärende Theorie in Sicht ist. Für unsere Zwecke scheint sich der so genannte kognitive Ansatz gut zu eignen, der Kognitionen (lat. cognitio = Erkenntnis) zum primären Gegenstand macht. Kognition umfasst alle Prozesse und Strukturen, die umgangssprachlich mit "geistig" assoziiert werden, wie etwa die Prozesse des Wahrnehmens, Schlussfolgerns, Erinnerns, Denkens, Problemlösens und Entscheidens. Diese Prozesse werden häufig als Prozesse der Informationsverarbeitung aufgefasst (was Informatikern durchaus entgegenkommt) – sie legen fest, wie ein Individuum sich verhalten wird. Dabei wird menschliches Handeln nicht als direkte Reaktion auf den Input (Informationsaufnahme aus der Umwelt) angesehen, sondern eben ein aktiver Prozess der Informationsverarbeitung bzw. Kognition zwischengeschaltet. Dabei wird aus den aufgenommenen Informationen ("distale Stimuli") aus der Umwelt eine subjektive Realität (Interpretation) konstruiert, die als "proximaler Input" für Handlungsentscheidungen herangezogen wird. [s]
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Informationsaufnahme–Wahrnehmung
Wahrnehmen heißt, Empfindungen Sinn zu verleihen. Die Ergebnisse des Wahrnehmungsprozesses nennen wir Perzepte.
Bei der Aufnahme von Information werden drei Stufen unterschieden:
  • Sensorische Empfindung: Umwandlung physikalischer Energie in neuronal kodierte Information
  • Perzeptuelle Organisation (Wahrnehmung im engeren Sinn): Aufbau einer inneren Repräsentation des wahrgenommenen Objekts bzw. Ereignisses
  • Klassifikationsprozesse - Identifizieren und Einordnen (im Sinne von Wiedererkennen): Zuweisung von Bedeutung an die Perzepte
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Beispiel
Beispiel: Wahrnehmung einer geöffneten Türe:
Abbildung Wahrnehmung einer geöffneten Türe
Wahrnehmung einer geöffneten Türe
Sensorische Stufe: Das Bild auf der Netzhaut (proximaler Reiz) enthält u.a.: ein Rechteck, zwei Trapeze, deren linke Seiten kürzer sind als die rechten und deren obere bzw. untere Seiten einander im gedachten Punkt P schneiden.
Organisation des Perzepts: Beide Trapeze sind perspektivisch verzerrte Rechtecke (Kanten werden als parallel und gleich lang wahrgenommen).
Erkennung: Perzept wird als geöffnete Türe identifiziert

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Sensorische Empfindung
In dieser Phase der Informationsaufnahme werden physikalische Reize (z.B. elektromagnetische Wellen im Falle des Sehens) in neuronale Informationen umgewandelt. In Abhängigkeit von den Wahrnehmungsbereichen der Rezeptoren unterscheiden wir dabei folgende Modalitäten:
  • Optisch: Sehen
  • Akustisch: Hören
  • Olfaktorisch: Riechen bzw. Schmecken
  • Taktil: Tasten
Im Bereich HCI spielt natürlich die optische Modalität die wichtigste Rolle, im Zusammenhang mit multimedialen Anwendungen treten aber auch die akustische und die taktile Modalität auf. Neueste Entwicklungen experimentieren sogar mit der Erzeugung von Gerüchen, also der olfaktorischen Modalität. Wegen der besonderen Bedeutung wird in der Folge meist das Sehen als prototypische Wahrnehmung behandelt.
Das durch die Sensorik erzeugte Abbild der Realität im Nervensystem wird als proximaler (dem Betrachter nahe liegender) Reiz bezeichnet, im Gegensatz zum distalen Reiz , dem Stimulus aus der realen Welt (vom Betrachter entfernt). Wahrnehmung kann dabei als Prozess aufgefasst werden, im Zuge dessen der distale Reiz (die "Wirklichkeit") aus Informationen des proximalen Reizes erschlossen wird - dies gilt für alle Modalitäten.
Interessant ist, dass alle Sinnesinformationen in dieselbe Art neuronaler Impulse umgewandelt werden. Die Unterscheidung erfolgt im Gehirn durch die Verarbeitung der Impulse in unterschiedlichen Hirnarealen.
Innerhalb einer Sinnesmodalität können neben qualitativen Unterschieden wie "süß" und "sauer" auch Unterschiede in der Intensität differenziert werden ("süßer/heller/lauter als"). Diese Unterschiede werden primär über die Frequenz der Nervenimpulse codiert. In der Psychophysik werden die Beziehungen zwischen Intensitäten physikalischer Reize und den induzierten Intensitäten der sensorischen Erfahrung untersucht. Dabei werden zwei Arten von Schwellen ermittelt:
  • Die absolute Schwelle wird definiert durch den geringsten Reiz, der überhaupt eine Empfindung auslöst (50% der Testpersonen entdecken den Reiz).
  • Die Unterschiedsschwelle bezeichnet die kleinste physikalische Differenz zwischen zwei Reizen, die als unterschiedlich empfunden wird (in 50% der Fälle wird der Unterschied erkannt).
? Die Unterschiedsschwelle bezeichnet die kleinste physikalische Differenz zwischen zwei Reizen, die als unterschiedlich empfunden wird (in 50% der Fälle wird der Unterschied erkannt).
Beispielsweise kann die Flamme einer Kerze in einer dunklen, klaren Nacht aus etwa 30 Meilen Entfernung gesehen werden. Das Ticken einer Uhr kann in stiller Umgebung aus etwa 6-7 m Entfernung gehört werden. [s]
Bezüglich der Unterschiedsschwellen gilt laut Weberschem Gesetz, dass der gerade noch erkennbare Reizzuwachs zum Ausgangsreiz in einem konstanten Verhältnis steht. So gilt etwa, dass zwei Strecken als unterschiedlich lang erkannt werden, wenn der Längenzuwachs mindestens 10% beträgt.
In eine ähnliche Richtung geht das Fechnersche Gesetz, das postuliert, dass bei linearer Zunahme des Reizes die Zunahme der empfundenen Intensität lediglich logarithmisch erfolgt. Wenn man also eine Kerze zu einer zweiten stellt, ist der Helligkeitsunterschied deutlicher als wenn man die Kerze zu einer Gruppe von 100 Kerzen stellt.
Das Wahrnehmungssystem reagiert auf Veränderungen der Eindrücke sensibler als auf gleich bleibende Reize. Der Begriff (sensorische) Adaption bezeichnet die abnehmende Reaktionsstärke des Wahrnehmungssystems bei andauerndem, konstantem Reizinput. Dieser Anpassungsmechanismus erlaubt es uns, unsere Aufmerksamkeit speziell auf neue Informationen zu richten und rasch auf sie zu reagieren. [s]
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Visuelle Wahrnehmung
Das Auge verfügt über zwei Arten von Photorezeptoren: ca. 120 Millionen hoch empfindlicher Stäbchen , die gehäuft im peripheren Bereich der Retina auftreten, und ca. 6 Millionen weniger empfindlicher Zapfen , die gehäuft im Bereich der Fovea ("Sehgrube") auftreten, wo das Bild "fixiert" wird. Lediglich die Zapfen können Farben unterscheiden (siehe dazu die Lerneinheit "BegriffFarbwahrnehmung"]).
Die räumliche Auflösung des Sehens beträgt ca. eine Bogensekunde.
Das Gesichtsfeld umfasst (mit Augen- und Kopfbewegungen) normalerweise ca. +-100°, eine exakte Farberkennung ist jedoch nur im Bereich von +-60° möglich (allerdings zieht jede Veränderung (Bewegung) im Randfeld die Aufmerksamkeit auf sich).
Der Bereich maximaler Sehschärfe (visual acuity) umfasst etwa fünf Grad, das entspricht bei üblicher Zeichengröße auf einem normal entfernten Bildschirm ungefähr einem Feld von sieben Zeilen zu je 15 Zeichen:
Abbildung Visual Acuity
Visual Acuity
Ein Kontrastist der Intensitätsunterschied zwischen einem Reiz und seinem jeweiligen Reizhintergrund. Je größer dieser Unterschied wird, desto deutlicher wird der Kontrast(effekt). Kontraste sind notwendig, um überhaupt verschiedene Objekte bzw. Unterschiede zwischen benachbarten Regionen wahrnehmen zu können.
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Perzeptuelle Organisation
Wahrnehmungsorganisation: Abstraktion von Einzelinformationen zu handhabbaren Einheiten ( Perzepten)
1.) Gliederungdes sensorischen Gesamteindrucks in Bereiche
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Beispiel
Beispiel (Sehen):
  • homogene Farbe
  • homogener Oberflächenstruktur (Textur)
Abbildung Gliederung des sensorischen Gesamteindrucks in Bereiche
Gliederung des sensorischen Gesamteindrucks in Bereiche

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2.) Einteilung der Bereiche in Figurund Grund, vor dem sich die Figur abhebt
Starke Tendenz zur Figur-Grund-Gliederung– erzeugt auch "virtuelle" Figuren ohne korrespondierenden distalen Reiz
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Beispiel
"Virtuelles" weißes Dreieck:
Abbildung virtuelle Figuren
virtuelle Figuren

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3.) Gruppierungvon Teilfiguren
Gestaltansatz: "Das Ganze (die Gestalt) mehr ist als die Summe seiner Teile"
Gestaltgesetze= Faktoren, nach denen die Gruppierung erfolgt:
  • Nähe: Benachbarte Objekte
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Beispiel
9 Elemente werden als drei Spalten aufgefasst:
Abbildung Benachbarte Objekte werden als Gruppe erkannt
Benachbarte Objekte werden als Gruppe erkannt

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  • Ähnlichkeit: Objekte gleicher Form oder Farbe
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Beispiel
Trotz horizontal wie vertikal gleicher Abstände bilden die Spalten (und nicht die Zeilen) eine Einheit:
Abbildung Beispiel für die Beeinflussung von Ähnlichkeit
Beispiel für die Beeinflussung von Ähnlichkeit

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  • Gemeinsames Schicksal: bewegte Objekte mit derselben Geschwindigkeit und Richtung
  • Kontinuität: Kontinuierliche Muster
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Beispiel
Abbildung Kontinuierliche Muster
Kontinuierliche Muster

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  • Symmetrie: Symmetrische Grenzlinien = Objektbegrenzungen
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Beispiel
Abbildung Symmetrische Grenzlinien
Symmetrische Grenzlinien

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Ergänzend: Prinzip der "guten Gestalt": Einfache, symmetrische, regelmäßige Figuren werden leichter wahrgenommen/gemerkt.
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Beispiel
Das regelmäßige Sechseck wird am leichtesten wahrgenommen bzw. erinnert, obwohl sämtliche Figuren sechs Begrenzungslinien aufweisen:
Abbildung Geometrische Figuren
Geometrische Figuren

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Zusammenfassung der Gestaltgesetze zu einem allgemeinen gestaltpsychologischen Prinzip:
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Definition
BegriffPrägnanzgesetz: Reize oder Reizkonfigurationen werden so wahrgenommen, als wären sie nach möglichst einfachen Organisationsprinzipien aufgebaut.

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Erklärung
Prinzipien der Nähe, der Ähnlichkeit, des gemeinsames Schicksals und der guten Gestalt = Ausprägungen des Prägnanzgesetzes

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4.) Streben nach Geschlossenheit:
  • Geschlossene Formen werden bevorzugt wahrgenommen
  • Kleine Fehler werden oft korrigiert, um Geschlossenheit vorzutäuschen (vgl. etwa das "Rechteck" im obigen Beispiel zur Symmetrie)
5.) Integration in räumliche und zeitliche Bezugsrahmen
Räumliche Bezugsrahmen beeinflussen die Interpretation von Perzepten
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Beispiel
Abbildung Integration in räumliche und zeitliche Bezugsrahmen
Integration in räumliche und zeitliche Bezugsrahmen
Oberer Teil: links wird ein Quadrat, rechts eine Raute wahrgenommen
Unterer Teil: Interpretation "kippt" auf Grund der Integration in den Bezugsrahmen

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Zeitlich Bezüge können das Wahrgenommene beeinflussen: Wahrnehmungen, die gemeinsam gemacht wurden, korrelieren im Bewusstsein
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Beispiel
Beispiel: Geruch oder Melodie erinnert an eine bestimmte Situation

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Die Wahrnehmungsorganisation dient zur Abstraktion der Millionen von Einzelinformationen zu handhabbaren Einheiten, den Perzepten.
Dabei erfolgt zunächst eine Gliederungdes sensorischen Gesamteindrucks in Bereiche, z.B. (beim Sehen) auf Basis homogener Farbe oder homogener Oberflächenstruktur (Textur). In der folgenden Abbildung wird skizziert, wie ein Netzhautbild in unterschiedlich helle, in sich homogene Bereiche eingeteilt wird [ZG 130].
Abbildung Gliederung des sensorischen Gesamteindrucks in Bereiche
Gliederung des sensorischen Gesamteindrucks in Bereiche
Der nächste Prozess teilt die Bereiche in die so genannte Figur und den so genannten Grund ein - eine Art Hintergrund, vor dem sich die Figur abhebt. Die Tendenz zu dieser Figur-Grund-Gliederungist so stark, dass sie auch "virtuelle" Figuren erzeugt (ohne korrespondierenden distalen Reiz), wie das vermeintliche weiße Dreieck im Vordergrund der nachstehenden Abbildung:
Abbildung ?virtuelle? Figuren
?virtuelle? Figuren
Weiters erfolgt eine Gruppierungvon Teilfiguren nach dem so genannten Gestaltansatz von Forschungsgruppen in Berlin (Berliner Schule um Max Wertheimer) und Graz (Alexius von Meinong). Die zentrale These lautet dabei, dass das Ganze (die Gestalt) mehr ist als die Summe seiner Teile.
"Ich stehe am Fenster und sehe ein Haus, Bäume, den Himmel. Rein theoretisch könnte ich das alles zahlenmäßig erfassen: es sind [...] 327 Farbtöne und Helligkeitsstufen. Sehe ich tatsächlich 327 Unterschiedsstufen? Nein: Himmel, Haus, Bäume - die Gegebenheit der 327 Abstufungen kann kein Mensch realisieren." [Wertheimer, 1912]
Die Faktoren, nach denen die Gruppierung erfolgt, werden als Gestaltgesetze bezeichnet. Dazu gehören u.a.:
  • Nähe: Benachbarte Objekte werden als Gruppe erkannt - so werden etwa die 9 Elemente in der folgenden Abbildung als drei Spalten aufgefasst:
Abbildung Benachbarte Objekte werden als Gruppe erkannt
Benachbarte Objekte werden als Gruppe erkannt
  • Ähnlichkeit: Objekte gleicher Form oder Farbe werden zusammengehörig betrachtet. In der Abbildung bilden trotz horizontal wie vertikal gleicher Abstände die Spalten (und nicht die Zeilen) eine Einheit:
Abbildung Beispiel für die Beeinflussung von Ähnlichkeit
Beispiel für die Beeinflussung von Ähnlichkeit
  • Gemeinsames Schicksal: Wenn Objekte sich im Gesichtsfeld bewegen, werden jene, die sich in dieselbe Richtung und mit derselben Geschwindigkeit bewegen, als zusammengehörig wahrgenommen.
  • Kontinuität: Kontinuierliche Muster werden als Einheit erkannt:
Abbildung Kontinuierliche Muster
Kontinuierliche Muster
  • Symmetrie: Symmetrische Grenzlinien werden als Objektbegrenzungen erkannt:
Abbildung Symmetrische Grenzlinien
Symmetrische Grenzlinien
Dazu kommt Prinzip der "guten Gestalt": Einfache, symmetrische, regelmäßige Figuren werden leichter wahrgenommen bzw. gemerkt. In der Abbildung wird das regelmäßige Sechseck am leichtesten wahrgenommen bzw. erinnert, obwohl sämtliche Figuren sechs Begrenzungslinien aufweisen:
Abbildung Geometrische Figuren
Geometrische Figuren
In der Gestaltpsychologie wurde versucht, die Gestaltgesetze zu einem allgemeinen gestaltpsychologischen Prinzip, dem Prägnanzgesetz, zu vereinen: Reize oder Reizkonfigurationen werden so wahrgenommen, als wären sie nach möglichst einfachen Organisationsprinzipien aufgebaut.
Die Prinzipien der Nähe, der Ähnlichkeit, des gemeinsames Schicksals und der guten Gestalt können als Ausprägungen des Prägnanzgesetzes aufgefasst werden.
Neben der Gruppierung erfolgt auch ein Streben nach Geschlossenheit. Geschlossene Formen werden bevorzugt wahrgenommen. Das kann auch dazu führen, dass kleine Fehler korrigiert werden, um Geschlossenheit vorzutäuschen - vgl. etwa das "Rechteck" im obigen Beispiel zur Symmetrie.
Schließlich erfolgt noch eine Integration in räumliche und zeitliche Bezugsrahmen. Räumliche Bezugsrahmen beeinflussen die Interpretation von Perzepten, wie im folgenden Beispiel gezeigt wird:
Abbildung Integration in räumliche und zeitliche Bezugsrahmen
Integration in räumliche und zeitliche Bezugsrahmen
Im oberen Teil der Wahrnehmung wird links ein Quadrat und rechts eine Raute wahrgenommen. Im unteren Teil "kippt" diese Interpretation auf Grund der Integration in den Bezugsrahmen: links ein Rhombus, rechts ein Quadrat.
Zeitlich Bezüge können das Wahrgenommene beeinflussen: Wahrnehmungen, die gemeinsam gemacht wurden, korrelieren im Bewusstsein, so erinnert z.B. ein Geruch oder eine Melodie an eine bestimmte Situation.
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Tiefenwahrnehmung
Wahrnehmung von räumlichen Informationen ist durch das zweidimensionale Bild auf der Netzhaut direkt nicht möglich. Daher gibt es Prozesse im Gehirn, die dieses räumliche Sehen erst aus dem Netzhautbild unter Zuhilfenahme diverser Zusatzinformationen konstruieren.
Diese zusätzlichen Informationsquellen sind u.a. Querdisparation, Konvergenz und Bewegungsparallaxe.
Unter Querdisparationoder binokularer Disparität verstehen wir die aus dem Augenabstand von ca. 6 cm resultierenden geringfügig unterschiedlichen Bilder in beiden Augen, die im Gehirn zu einem 3D-Bild kombiniert werden.
Mit Konvergenzbezeichnen wir die Tatsache, dass die Sehachsen der beiden Augen im Nahbereich nicht parallel zu einander verlaufen, sondern konvergieren, d.h., das betrachtete Objekt in einem spitzen Winkel treffen. Je größer dieser Winkel, der über die Augenmuskeln an das Gehirn übermittelt wird, desto näher das Objekt.
Zur Interpretation der Entfernung von Objekten dient weiters die Bewegungsparallaxe . Dies ist ein Mechanismus, der aus der Sichtbarkeit der Bewegung die Entfernung abschätzt, da sich weiter entfernte Objekte in Bewegung weniger stark verändern als nahe Objekte.
Darüber hinaus spielen so genannte Abbildungsfaktoren bei der Wahrnehmung der Raumtiefe eine Rolle, die ohne Stereoeffekte auskommen. Diese werden auch im Zusammenhang mit der Mensch-Computer-Interaktion genützt, um auf einem zweidimensionalen Bildschirm Tiefeneindrücke zu vermitteln - wir sprechen dabei von "2½D-Abbildungen":
  • Verdeckung oder Interposition: ein Objekt, das ein anderes überdeckt, befindet sich im Vordergrund.
  • Schattierung unterstützt den Eindruck der Dreidimensionalität eines Objekts.
  • Lineare Perspektive: Die Konvergenz paralleler Strahlen in der Ferne wird seit der Renaissance auch in der Malerei ausgenützt. Das folgende Beispiel zeigt den gewohnten Konvergenzeffekt in der Natur, der zu einer Wahrnehmungstäuschung führt (Müller-Lyersche Täuschung):
Abbildung Müller-Lyersche Täuschung
Müller-Lyersche Täuschung
Die beiden hervorgehobenen Linien sind gleich lang, werden aber aufgrund der Perspektive als unterschiedlich wahrgenommen.
  • Der Texturgradient , die Verteilung der Oberflächenstruktur, liefert insofern Hinweise auf die Tiefe, als gleichmäßige Strukturen mit zunehmender Entfernung dichter erscheinen (z.B. bei der Darstellung eines Fliesenbodens oder auch das "Fachwerk" in der obigen Skizze).
Die relative Größe eines Objekts gibt ebenfalls Auskunft über seine entfernung vom Betrachter. Da man in der obigen Skizze davon ausgeht, dass die Rechtecke des "Fachwerks" kongruent sind, führt ihre Verkleinerung zu einer Betonung des Tiefeneindrucks.
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Wahrnehmungskonstanzen
Im Zuge der Organisation der Wahrnehmung tendiert der Mensch, die wahrgenommene Umwelt auch bei entsprechender Änderung der proximalen Reize als invariant und stabil zu interpretieren - man spricht von Wahrnehmungskonstanzen :
? Die Größenkonstanz bewirkt, dass ein Obwohl in der Entfernung ein als gelich groß wie ein ähnliches Objekt in der Nähe angesehen wird, obwohl ersteres ein wesentlich kleineres Netzhautbild erzeugt als das nahe liegende. Das Wahrnehmungssystem berücksichtigt also die erwähnten Effekte zur Distanzschätzung und kompensiert damit den subjektiven Größeneindruck. Darüber hinaus fließt in diesen Prozess auch Information über die typische Größe ähnlicher Gegenstände ein, weshalb er wohl zumindest z.T. in den Bereich der Klassifikationsprozesse (3. Wahrnehmungsstufe) fällt.
? Die Formkonstanz bewirkt, dass man eine Figur aus verschiedensten Blickwinkeln als dieselbe betrachtet, obwohl sich das Bild auf der Netzhaut entscheidend ändert. So wird eine Münze als kreisförmig wahrgenommen, unabhängig davon, ob das Netzhautbild rund oder elliptisch ist, weil die Münze z.B. schräg betrachtet wird.
Die Wahrnehmungskonstanz bricht allerdings unter extremen Bedingungen zusammen. So gilt die Größenkonstanz nicht mehr, wenn man vom Dach eines Wolkenkratzers hinunter auf die Straße blickt - die Autos werden als "Spielzeugautos" betrachtet.
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Klassifikationsprozesse
Auf der dritten Wahrnehmungsstufe wird den wahrgenommenen Perzepten durch Identifizieren und Einordnen in Kategorien Bedeutung zugeordnet. Dies erfolgt in gegenläufigen Prozessen sowohl datengeleitet (bottom-up) als auch konzept-, hypothesen- und erfahrungsgeleitet ( top-down ).
Abbildung Mentale Prozesse
Mentale Prozesse
Bottom-up-Verarbeitung besteht aus der Aufnahme von Sinnesdaten, deren Weiterleitung und der Gewinnung von Information aus diesen Daten, weshalb sie auch als datengeleitet bezeichnet wird. Das bedeutet, dass die wahrgenommenen Daten quasi kontextfrei in abstrakte Konzepte übersetzt werden, ein an sich fehleranfälliges Verfahren, das allerdings durch Zuhilfenahme von kontextbasierten Erwartungen unterstützt werden kann (top-down-Prozesse), womit sich insgesamt ein robusterer Klassifikationsprozess ergibt.
Erkennen basiert auf dem Vergleich von Perzepten mit Repräsentationen im Gedächtnis. Eine empirisch untermauerte Möglichkeit besteht darin, dass die gespeicherten Repräsentationen einerseits aus einer begrenzten Menge von Komponenten und andererseits aus Informationen über die möglichen Kombinationen dieser Komponenten bestehen [Marr u. Nishihara 1978]. Die Klassifikation erfolgt in diesem Fall zunächst bezüglich der Komponenten, erst dann erfolgt die Klassifikation des Ganzen, wobei es genügt, wenn nur die wesentlichen Komponenten erkannt werden.
Wahrnehmung kann also als Konstruktionsprozess aufgefasst werden, der sowohl auf die Bottom-up-Information über die physikalischen Eigenschaften der Objekte als auch auf unsere Top-down-Erwartungen zurückgreift. [s]
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Bottom-up-Prozesse
Im so genannten Schablonenmodell können Reize nur klassifiziert werden, wenn diese in eine Schablone passen. Dabei muss eine exakte Übereinstimmung (exact match) gegeben sein, um den Reiz zu erkennen.
Wie im untenstehenden Beispiel werden durch die Schablone nur Muster des Buchstaben A akzeptiert, die exakt der Schablone entsprechen (a). Zwar werden andere Buchstaben richtigerweise nicht akzeptiert (b und c), allerdings auch Derivate des richtigen Buchstabens, die entweder in Form, Größe oder Ausrichtung von der Schablone abweichen (d, e, f, g, h).
Abbildung Schablonenabgleich
Schablonenabgleich
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Top-down-Prozesse
Wie wir aus eigener Erfahrung wissen, unterstützt uns der Kontext einer Wahrnehmung stark bei der Klassifikation. Umgekehrt können wir z.B. flüchtige Bekannte aus der Nachbarschaft, die wir zufällig in einer fremden Stadt treffen, nur sehr schwer "einordnen". Dieser Einfluss von Erwartungen auf den Klassifikationsprozess gehört zum Phänomen der Top-down-Verarbeitung, genauso wie Einflüsse von Erfahrung, Wissen, Motivation etc. Während der Top-down-Verarbeitung haben höhere mentale Prozesse auf die Kategorisierung. Weil gespeicherte Konzepte zu Hypothesen über die wahrgenommene Realität führen, sprechen wir auch von konzept- oder hypothesengeleiteter Verarbeitung. [s]
Unter einem Wahrnehmungsset oder Voreinstellung in der Wahrnehmung verstehen wir die Bereitschaft, einen ganz bestimmten Reiz zu erwarten. Damit gelingt es auch, mehrdeutige Stimuli sinnvoll zu interpretieren.
Abbildung Beispiel für einen Wahrnehmungskontext
Beispiel für einen Wahrnehmungskontext
In dieser Abbildung lässt der Kontext ein und dasselbe Zeichen einmal als A und einmal als H erscheinen.
Für die Erkennung von komplexen Mustern sind im Gegensatz zu einfachen Objekten (siehe Schablonenabgleich) auch höhere kognitive Prozesse erforderlich. Beispielsweise bedarf es für die Erkennung von verfremdeten bzw. unvollständigen Objekten eines gewissen Grades an Vorwissen bzw. Erfahrung.

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Gerhard Leitner (gerhard@isys.uni-klu.ac.at)
IAS, Universität Klagenfurt