.
Zum Wesen der Perspektive gehört, dass parallel zueinander laufende Linien nur dann auch parallel zueinander dargestellt werden, wenn sie auch parallel zur Projektionsebene (=Bildebene) liegen. Alle übrigen Linien und Kanten laufen scheinbar in einem sogenannten Fluchtpunkt am Horizont zusammen.
Zur Wahl des Bildmotivs gehört auch die Wahl des Betrachterstandorts, also die Wahl der Perspektive. In klassischen Gemälden finden wir oft perspektivisch verzerrte, also mit der Entfernung kleiner werdende Häuserfassaden, die für die Gesamtkomposition eine interessantere Linienführung bringen, als eine Frontalansicht wie aus einem Bauplan.
Doch interessanterweise sind es immer nur die horizontalen Linien, die zusammenstürzen. Die senkrechten bleiben parallel. Anders ausgedrückt: Während die Maler ihre gedachten – oder im Fall der Verwendung einer Camera Obscura realen – Projektionsebene horizontal in alle Richtungen schwenkten, wenn sie ihre Ansichten wählten, hielten sie die Projektionsebene immer streng senkrecht.

Beispiel
Ein Ausschnitt der bereits weiter oben gezeigten Darstellung Albrecht Dürers zeigt deutlich: Das Visierloch, durch das der Maler sein Motiv betrachtet, ist über Schrauben verstellbar, wodurch sich die Blickrichtung ändern lässt. Die Bildebene bleibt aber senkrecht fixiert.
Ausschnitt aus einem Canaletto-Gemälde. Die Verlängerungen der waagrechten (rot markierten) Gebäudekanten laufen am Horizont zusammen. Die senkrechten (blauen) Kanten bleiben senkrecht und damit parallel zueinander.

Wer mit einem Fotoapparat auf Motivsuche geht, wird auf den fertigen Abzügen jedoch oft auch senkrechte Linien verzerrt finden, als würden sie in einem Fluchtpunkt oberhalb des Bildes zusammenlaufen.

Beispiel

Unter anderem hat diese Diskrepanz unter Kunsttheoretikern zur Ansicht geführt, die Perspektive der klassischen Malerei sei falsch oder eine willkürliche Konvention. Tatsächlich sind es zwei verschiedene Konventionen, die aber beide vom Standpunkt der darstellenden Geometrie nicht falsch sind: Nach der Konvention der Malerei bleibt die Projektionsebene immer senkrecht stehen. Die – durch den Aufbau von Klein- und Mittelformatkameras bedingte – Konvention der Fotografie verlangt, dass die Projektionsachse frontal dem abgebildeten Objekt zugewandt ist.
Die „malerische“ Konvention der nicht stürzenden Senkrechten entspricht eher unserer Wahrnehmung, der es schwer fällt, senkrechte Linien als Schrägen zu akzeptieren, während uns das bei Waagrechten keine Probleme bereitet. Offenbar nimmt hier der Gleichgewichtssinn Einfluss auf den Gesichtssinn.
Um bei Architekturaufnahmen stürzende Senkrechte zu vermeiden, werden verstellbare Kameras eingesetzt, mit denen die Projektionsebene unabhängig vom Blickwinkel senkrecht und damit parallel zu den Kanten der Gebäudefassaden gehalten werden kann. So entstehen Fotografien nach der malerischen Konvention.
Bilder, die Tiefen- und Bewegungsunschärfe oder stürzende Senkrechten zeigten, galten lange als misslungen. Erst im Lauf des 20. Jahrhunderts wurden sie vom Publikum auch als mögliche Bildgestaltungsmittel akzeptiert.
Ernst H. Gombrich: Bild und Auge – neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Klett-Cotta, Stuttgart, 1984
Marlene Schnelle-Schneyder: Sehen und Photographieren – Von der Ästhetik zum Bild. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg, 2003
Eadweard Muybridge: Animals in Motion, Dover Publications, New York, 1957